1823. Am Anfang von ÖйúÈý¼¶Æ¬ steht die erste bayerische Schwefelsäurefabrik. Die 123 Jahre vor der Ära Rosenthal sind geprägt vom schnellen Wandel der chemischen Industrie, aber auch zahlreichen Eigentümerwechseln. Was bleibt, sind der Name „Bärlocher“ und der Standort München.
Dr. Johann Gottfried Dingler wagt 1823 etwas Außergewöhnliches im bayerischen Augsburg. Der Chemiker versammelt eine illustre Gruppe aus anderen Chemikern, Baumwollfabrikanten, Kaufleuten und Politikern um sich. Gemeinsam errichten sie die erste Schwefelsäurefabrik in Bayern, die Wiege von ÖйúÈý¼¶Æ¬. Schwefelsäure wird für die Produktion von Chlor und Soda sowie das Bleichen von Textilien benötigt. Im landwirtschaftlich geprägten Königreich Bayern ist sie bis 1823 Importware. Dingler und seine Gefährten wittern deshalb eine Chance und erhalten von königlicher Hand das Fertigungsmonopol für Schwefelsäure. Die Fabrik ist hochrentabel, exportiert bald sogar ins europäische Ausland.
Doch bereits 1828 ist die bequeme Monopolstellung dahin. Neue Produkte müssen her, als die Gründer die Fabrik später verkaufen. Unter den neuen Inhabern produziert man u.a. Glaubersalz, Salpetersäure und Knochenleimleder, aber auch Phosphor, Holzsäure oder gebranntes Elfenbein, z.B. für Glasereien und die Textilproduktion. Folgenreich ist 1864 der Verkauf an den Schweizer Chemiker Otto Bärlocher. Er will eigentlich zurück in die Heimat, stirbt jedoch 1880 mit nur 50 Jahren. Sein Vermächtnis ist der neue Name „Chemische Werke Otto Bärlocher“. Während sein Name bleibt, dreht sich das Besitzerkarussell weiter. Auch die Produktpalette wird facettenreicher. Nun wird auch damals neuartiger Kunstdünger hergestellt, für den eine große Nachfrage herrscht.
Der Weg nach München – und in unruhige Zeiten
1903 übernehmen der Chemiker Dr. Anselm Kahn und der Ingenieur Franz Wittmann. Die in den „Chemischen Werken Otto Bärlocher“ beschäftigten Arbeiter stellen nun auch Bügelkohlen und Waschpulver her – B2C-Geschäft aus heutiger Sicht. 1909 steigen Kahn und Wittmann auch in die frisch gegründete „Chemische Werke München GmbH“ ein, die Abfallprodukte eines Gaswerks für die Kunstdüngerproduktion verwertet. Zwei Jahre später folgt die Fusion zu „Chemische Werke München – Otto Bärlocher“. Vierzehn Jahre später wird man sich endgültig aus Augsburg verabschieden. Moosach ist zu diesem Zeitpunkt ohnehin schon Hauptsitz.
Weltkriege und Diktatur
Im Ersten Weltkrieg produzieren die „Chemischen Werke München – Otto Bärlocher“ Chilesalpeter für Munition und Sprengstoff. Die wirtschaftliche Situation ist angespannt. Auch das Ende des Krieges ändert daran wenig. Dr. Anselm Kahn reagiert, indem er Angehörige an den Werken beteiligt und schließlich 1927 mit seiner Familie die Mehrheit hält. Franz Wittmann scheidet 1925 aus. Anfang der 1930er scheint es wieder bergauf zu gehen.
Doch die Machtübernahme der Nationalsozialisten ändert 1933 alles. Bald geraten die „Chemischen Werke“ in das Visier der rassenideologischen Verfolgung. Jüdische Mitbürger werden schrittweise und systematisch aus dem Wirtschaftsleben verdrängt. Die Geschäftsführung legen Anselm und sein Sohn Fritz Kahn 1938 gezwungenermaßen zugunsten Franz Wittmanns nieder, der an die Unternehmensspitze zurückkehrt. Bis Juni 1938 müssen die Kahns und weitere jüdische Gesellschafter ihre Anteile an Wittmann und dessen Bruder Hugo abtreten. Wittmann stellt im Zweiten Weltkrieg die Fertigung auf Schuhcreme, Badesalz und Scheuerpulver um. Sonderlich rentabel ist das nicht. Erfolg hat er mit einer Anzündmasse für Kohle. Von November 1944 bis April 1945 arbeiten auch Zwangsarbeiter im Werk, wahrscheinlich mehrere Dutzend Personen. Für die spätere Inhaberfamilie Rosenthal ist es selbstverständlich, dass sich ÖйúÈý¼¶Æ¬ über die Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (EVZ) an der Entschädigung früherer Zwangsarbeiter durch die deutsche Wirtschaft beteiligt.
1946: Neuanfang unter Dr. Christian Rosenthal
Nach Kriegsende versucht die US-Militärregierung, die deutsche Wirtschaft zu entnazifizieren. Die „Chemischen Werke“ fallen unter staatliche Verwaltung. Ein Treuhänder muss her. Dr. Christian Rosenthal. Zunächst als Zwischenlösung vorgesehen, beginnt mit ihm 1946 das erste von mittlerweile 77 Jahren der „Ära Rosenthal“ von ÖйúÈý¼¶Æ¬. Er wird sich als perfect match für die brachliegende Chemiefabrik entpuppen, die zu diesem Zeitpunkt bereits 123 Jahre alt ist.
Das Schicksal der Familie Kahn
Dr. Anselm Kahn manövriert die „Chemischen Werke München – Otto Bärlocher“ sicher durch den Ersten Weltkrieg und die wirtschaftlich herausfordernde Zeit der Weimarer Republik. Unter den Nationalsozialisten erleben er und seine Familie Enteignung, Exil, Leid und Tod. Nach der Verdrängung aus dem Unternehmen emigriert Anselms Sohn Dr. Fritz Kahn 1938 in die USA. Auch Dr. Anselm Kahn gelingt die Flucht über den Atlantik. Sein Bruder Ernst wandert nach Tel Aviv aus.
Doch nicht alle jüdischen Gesellschafter können sich retten. Arthur Arnold wird im KZ Dachau, Benno Arnold und seine Frau Luise werden im KZ Theresienstadt ermordet. 1948 stellen Dr. Anselm und Fritz Kahn sowie viele andere der ehemaligen jüdischen Gesellschafter einen Antrag auf Rückerstattung. Die Brüder Wittmann verlangen jedoch einen Ausgleich. Es folgt ein längeres Hin und Her zwischen den Anwälten. Erst im Februar 1951 wird eine Einigung erzielt. Die Brüder Wittmann geben die Anteile, die sie damals übernommen haben, sowie die Hälfte des in der Zwischenzeit erwachsenen Gewinns in Form von Geschäftsanteilen zurück. Das tragische Schicksal der Familie Kahn aber mahnt bis heute.